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Raimund Kalinowski

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Alles neu!

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Vor gut 30 Jahren behauptete Tchibo in einer groß angelegten Reklamekampagne: „ALLES FRISCH!“. Messen besuchte man noch um sich über „Alles Neue“ zu informieren. Wenn man heute über eine Messe schlendert und auf dem Stand eines Maschinenherstellers fragt, was es an revolutionären Neuheiten zu bestaunen gibt, begegnet einem regelmäßig entweder Ratlosigkeit oder Bedauern.

Ist schon alles erfunden und beschränken sich „Neuheiten“ fast ausschließlich auf Detailverbesserungen? Sind die Entwicklungskosten im Verhältnis zum erwarteten Gewinnzuwachs zu hoch, sodass Neuentwicklungen unwirtschaftlich sind oder werden primär Entwicklungen voran getrieben die die Investoren cool und trendy finden? Fragt der Kunde ausschließlich nach den Einsparungen, die er mit einer neuen Maschine erzielen kann? Ist ein Kunde in der Lage die Werte einer Maschine zu erkennen oder kann er kostengünstiger durch professionelle Werbemaßnahmen gewonnen werden?


War vor 100 Jahren alles anders oder haben Errungenschaften von vor 100 Jahren es bis in die Gegenwart geschafft?

Ein Leben ohne Pferd ist möglich

Wenn der Braumeister von einem Mitarbeiter über Druckschäden informiert wurde, wusste er, dass sie vom Geschirr verursacht wurden und dass die Gegenmaßnahmen bei Kummet-, Sielen- Gurtlage- oder Widerrustschäden anders aussehen mussten als bei Scheuerstellen. Der Braumeister wusste, dass Mondblindheit oder Druse fieberhafte Erkrankungen und der Bockhuf unheilbar waren. Ihm war bewusst, dass ein Pferd nicht mehr als 5 Pfund Möhren am Tag fressen sollte und wenn man etwas Salzwasser hinzu gibt, frisst das Pferd die Biertreber lieber. Dass ein englischer Kaltblüter im Mittel 770 kg wog, war hauptsächlich interessant, wenn ausgediente Pferde an den Metzger verkauft wurden. Im Deutschen Reich gab es etwa 4,4 Millionen Pferde, Brauereien hielten sich insgesamt etwa 50.000 Pferde mit einem Gesamtwert von 51 Millionen Mark, d.h. ein Pferd hatte einen mittleren Wert von gut 1.000 Mark.

Bestandsaufnahme

Im Jahre 1906 gab es im Deutschen Reich 16.187 Brauereien, die 72.906.994 hl Bier erzeugten, das sind im Durchschnitt 4.500 hl je Brauerei. Bei 61 Millionen Einwohnern ergibt sich ein Bierkonsum von 120 l pro Kopf. Die Weltbiererzeugung betrug 272.107.720 hl, sodass Deutschland fast 27% des Bieres in der Welt produzierte und auch trank, da der Exportüberschuss mit etwa 300.000 hl gering war. Deutschland, Österreich, Großbritannien und die USA erzeugten zusammen mehr als 80% der Weltbiermenge. Die Deutschen Brauereien hatten über 100.000 Mitarbeiter, verbrauchten im Jahr 1.825.000 t Malz (ca. 25 kg Malz/hl) und 15.000 t Hopfen (206 g/hl (ca. 11 g α-Säure/hl)). Die Tonne Malz wurde für 180,- Mark verkauft und ein Kilogramm α-Säure kostete etwa 44 Mark, d.h. die Kosten für Malz und Hopfen betrugen im Mittel 5 Mark/hl. Zum Vergleich, auf dem Münchner Oktoberfest wurde 1910 der Liter Bier für 38 Pfennige verkauft. Hopfenextrakt hatte sich nicht bewährt, was sicherlich an der Extraktions-Technik und an den verwendeten Lösungsmitteln lag. 542 Brauereien wurden als Aktiengesellschaft und 3 als Kommanditgesellschaft geführt, sie erwirtschafteten im Mittel eine Umsatzrendite von 7,75%.

Vergessenes

Wegen der im Jahre 1909 geänderten Steuergesetze und dem dort festgelegten Surrogatverbotes durfte im gesamten Deutschen Reich keine Rohfrucht mehr eingesetzt werden. Bis 1906 wurden auch bei untergärigen Bieren insbesondere Reis(bruch) und gelegentlich auch Mais als Rohfrucht verwendet.

Malzbier musste mindestens 15 kg Malz pro Hektoliter enthalten, um sich Malzbier nennen zu dürfen, aber es war keine Seltenheit, dass Malzbier mit bis zu 25°P ver­kauft wurde. (Japanische) Sake wurde korrekterweise noch als Reisbier bezeichnet. Bier wurde häufig noch ohne Gegendruck in Flaschen gefüllt, wobei die Abfüllung bei Verlegern weit verbreitet war. Zur Unterscheidung warb die Brauerei mit dem Qualitäts­merkmal des Brauereiabzugs. Es mag verwundern, dass Marketing­spezialisten den Qualitätsbegriff des Brauereiabzugs noch nicht wiederentdeckt haben. Zur Förderung von Bier waren Schläuche tierischen Ursprungs noch weit verbreitet, aber es wurden auch schon mehrlagige Gummischläuche mit Gewebeeinlagen verwendet. Rohrleitungen für Dampf, Wasser und Druckluft waren in der Regel aus Eisen. Rohrleitungen für Bier wurden noch sehr sparsam verwendet, Bier-Leitungen aus Kupfer wurden üblicherweise innen verzinnt. Offene Holzrinnen für Würze gehörten nicht mehr zu den anerkannten Regeln der Technik.

Statt der Kilowattstunde war auch für elektrische Arbeit noch die Pferdekraftstunde gebräuchlich. Das Kühlschiff war häufig bereits durch den Setzbottich ersetzt worden, aber statt eines Plattenkühlers wurde noch der Berieselungskühler [insbesondere in Österreich auch als Baudelot-Kühler bezeichnet] bevorzugt. Einige wenige Brauereien setzten statt des Berieselungskühlers Rohrbündelkühler ein, andere verwendeten Setzbottiche mit integrierter Kühlung, um auf den offenen Rieselkühler verzichten zu können.

Einige ‑ meist kleinere Brauereien ‑ verwendeten zur Kellerkühlung aus wirtschaftlichen Gründen noch Natureis. Holzlagerfässer und hölzerne Gärbottiche waren zwar noch in Betrieb, aber moderner waren emaillierte Stahltanks und Bottiche aus Beton mit einer Beschichtung aus Paraffin und Brauer-Pech oder sie wurden mit Aluminium ausgekleidet. Die Größe emaillierter Stahltanks war begrenzt durch die Größe der Emaillieröfen; auch die Einbringöffnungen in die Keller waren meist für Holzlagerfässer ausgelegt. Größere Tanks aus Segmenten zusammenzuschrauben wurde kaum praktiziert, da die Nachteile bekannt waren. Gebräuchlicher war es größere Tanks aus Aluminium direkt im Keller zusammenzuschweißen.

Kohlefadenglühbirnen waren aus wirtschaftlichen Gründen bereits weitgehend durch Metallfadenlampen ersetzt worden, wobei Metallfäden aus Tantal etwas verbreiteter waren als solche mit einem Draht aus Wolfram.

Direkt-beheizte Sudgefäße entsprachen nicht mehr den anerkannten Regeln der Technik. Aus Kostengründen installierten insbesondere kleinere Brauereien Lokomotivkessel, die jedoch einen geringeren Wirkungsgrad aufwiesen als moderne gemauerte Dampf-Kesselanlagen.

Leitende Angestellte hießen noch Betriebsbeamte und ein Brauer hatte etwa das doppelte Lungenvolumen eines Durchschnittsbürgers, was zum einen daran lag, dass es eine nennenswerte CO2-Konzentration in den Arbeitsräumen des Brauers gab und die Brauerarbeit schwer war. Dworsky-Lense bemerkten hierzu: „Bei der schweren Brauerarbeit ist ohne Bier nicht auszukommen.“

Dies klingt alles soweit weg, dass man sich kaum vorstellen kann, dass etwas von damals es ohne grundlegende Veränderungen in die heutige Zeit geschafft hat.

Noch aktuell?

Die Erkenntnis von Delbrück: „Das Bier ist so ohne weiteres keine Dauerware. [… .]; meistens genügt dem Brauer eine Haltbarkeit von 3 - 6 Wochen vollauf.“ hätte auch heute noch ihre Gültigkeit, wenn Brauer und Biertrinker und nicht der Handel und der 95%-Kunde über die gewünschten Eigenschaften entscheiden würden.

Jule Saladin (1826-1906) hatte die pneumatische Kastenmälzerei mit mechanischen Keimkastenwendern eingeführt und sie war wegen ihrer herausragenden Vorteile bereits auf der gesamten Welt verbreitet. Er wusste bereits, dass die Anzahl der Wendespiralen unwichtig ist. Irgendwann, lange nach seinem Tode wurde gelehrt, dass Keimkastenwender eine ungerade Anzahl von Spiralen haben müssen. In nahezu allen Fach- und Lehrbüchern wurde diese „Erkenntnis“ aufgenommen, obwohl bereits seit vielen Jahren Keimkästen mit Wendern, die z.B. 8 Spiralen aufwiesen, problemlos funktionierten. Es dauerte viele Jahrzehnte, bis man erkannte, dass die Weisheit mit der ungeraden Spiralanzahl Unfug ist. Obwohl es Einhordendarren und statische Mälzereien gab, in denen das Keimen und Darren ohne umzulagern im selben Kasten stattfand, so wurde in den meisten Betrieben die Mehrhordendarre aus energietechnischer Sicht favorisiert, da hierdurch eine mit Wasserdampf gesättigte Abluft dauerhaft gewährleistet werden konnte. Dass das Schwefeln die Qualität des Malzes nicht wirklich verändert, sondern das Malz nur für den Brauer aufhübscht, gehörte zum allgemeinen Wissensstand.

Saladin hatte eine kontinuierliche Mälzerei erfunden, war aber an der mechanischen Umsetzbarkeit mit den zur Verfügung stehenden Mitteln gescheitert.

Der führende Anbieter für Mälzereianlagen und insbesondere Malzdarren war die Fa. J. A. Topf & Söhne, Erfurt, die Jahrzehnte später auch Öfen zur Verbrennung von Leichen herstellte.

Insbesondere in der Brennerei wurden erfolgreich Versuche durchgeführt andere Getreide, wie Roggen, Hafer oder Mais zu vermälzen. Wobei die Nachteile des Maismalzes früh erkannt wurden. Dass Hafer und Roggen neben Weizen relativ gut zu vermälzen sind, überrascht hingegen nicht.

Backwaren die unter Verwendung von Bierhefe hergestellt werden, zeigen nicht die Krume, die der Bäcker sich wünscht. Franz Sarninghausen entwickelte ein Verfahren, wie man Bierhefe so aufbereitet, dass sie identische Back-Eigenschaften wie Bäckerhefe aufweist. Obwohl ihm für dieses Verfahren ein Patent erteilt wurde, gelang es ihm nicht dieses Verfahren zu vermarkten, sodass es in Vergessenheit geriet.

Wenn man von Ausführungsunterschieden absieht, haben sich zahlreiche Maschinen und Anlagen kaum verändert. Die 6-Walzen-Schrotmühle war in größeren Brauereien ebenso Standard, wie ein dampfbeheiztes Maischgefäß, ein Läuterbottich mit gefrästem Senkboden oder ein Maischefilter und eine dampfbeheizte Würzepfanne.

Auch wenn die offene Gärung noch das übliche Verfahren darstellte, so war doch eine kontinuierliche Gärung nach Schalk, mit 1700 hl großen Tanks versucht worden. Die Reinigungs- und Sterilsationsmöglichkeiten waren jedoch noch begrenzt, sodass es nicht gelang Fremdkeime dauerhaft fernzuhalten.

Auch wenn in vielen Bereichen noch Kolbenpumpen vorherrschten und wegen ihres konstanten Volumenstroms sehr beliebt waren, gab es bereits ein- und auch mehrstufige Kreiselpumpen.

Große Brauereien hatten üblicherweise vor der Filtration einen geschlossenen Biertiefkühler in Bündelrohrausführung installiert.

Der Zeit voraus?

Über die sinnvolle Anlage der Toilettenanlage [Aborte] hieß es: „Aborte in Brauereien. [… sind] vollständig rein und geruchlos zu halten [… .] Die Spülung muss, um jeder persönlichen Willkür vorzubeugen, entweder bei der Benutzung oder in regelmäßigen Zwischenräumen selbsttätig erfolgen.“

Die Kraftwärmekopplung war weit verbreitet. Verbrennungsmotoren wurden entweder mit Diesel oder mit Leuchtgas [Stadtgas] betrieben. Da Benzinmotoren zu hohe Treibstoffkosten verursachten, wurden sie nicht eingesetzt. Das Temperaturniveau der Abwärme der Verbrennungsmotoren war für die Brauerei zu niedrig, sodass sie nur für Mälzereien in Frage kamen. Brauereien betrieben meist Kolbendampfmaschinen; deren Hauptnachteil bestand darin, dass die Kolbendampfmaschine zur Schmierung ölhaltigen Dampf benötigte, ölhaltiger Dampf ist aber zum Heizen weniger gut geeignet und deshalb musste der Dampf vor der Verwendung z.B. im Sudhaus entölt werden. Dampfturbinen waren erst ab 500 PS wirtschaftlich sinnvoll und konnten mit ölfreiem Dampf betrieben werden. Als Kleinturbinen bezeichnete dampfbetriebene Pneumatikmotore wurden z.B. für den Antrieb von Flaschenbürstmaschinen eingesetzt. Insbesondere der Abdampf wurde als sehr störend empfunden, sodass sie sich nicht durchsetzen konnten obwohl der Kostenvorteil von Dampf gegenüber Druckluft oder elektrischen Antrieben erheblich war.

Bereits 1907 hatte Bechold Versuche mit der Ultrafiltration durchgeführt. Die Ergebnisse von wissenschaftlichen Untersuchungen über die Membranfiltration nach Bechold veröffentlichte W. Windisch in der Wochenschrift für Brauerei 42 (1925).

Das im Illustrierten Brauereilexikon das Wort Wurmloch auftaucht hat nichts mit Science Fiction zu tun, sondern ist der Tatsache geschuldet, dass die überwiegende Mehrheit der Bier-Transportfässer aus Eichenholz gefertigt waren.

Fazit

Manchmal ist es erschreckend, wenn man erkennt, welcher Wissensstand bereits vor 100 Jahren vorhanden war und zwischenzeitlich verloren gegangen ist. Aber würde man nicht zwischendurch etwas vergessen, könnte man die Dinge nicht neu erfinden oder über einen alten Witz herzhaft lachen. Die „Brauindustrie“ hat die Brau-Industrie nun 100 Jahre lang über alles Neue informiert und es immer geschafft aktuelle Themen dem Leser in verständlicher Form näher zu bringen. Es ist gut, wenn nicht alles neu ist, denn etwas das 100 Jahre überdauert hat, muss wirklich gut sein.

Ein Leben ohne Brauindustrie ist möglich, aber sinnlos.

Literatur:

Max Maerckers, Handbuch der Spiritusfabrikation, 9. Auflage, 1908

Dr. Max Delbrück, Illustriertes Brauerei-Lexikon, 1. Auflage, 1910

Jahrbuch der Versuchs- und Lehranstalt für Brauerei in Berlin, Vierzehnter Band, 1911

Dworsky-Lense, Katechismus der Brauereipraxis, 5. Auflage, 1936

Jean de Clerck übersetzt von Paul Kolbach, Lehrbuch der Brauerei, 1. Auflage, 1950

Wolfgang Kunze, Technologie Brauer und Mälzer, 5. Auflage 1979

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