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Raimund Kalinowski

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Darf Glas brechen?

Zum 60. Jahrestag des Kieler Matrosenaufstands sang Knut Kiesewetter 1978: „Die Macht im Staat haben immer noch die Gleichen“. Inzwischen hat sich einiges geändert. Bier hatte anno 1978 in der Regel eine versprochene Mindesthaltbarkeit von überschaubaren 6 Wochen, Pils mindestens 30 EBC-Bittereinheiten und trübe Limonaden konnten aufklaren und durften noch einen Ring am Flüssigkeitsspiegel bilden; wer in Dortmund in einem Gartenlokal ein Weizen bestellte, bekam einen Schnaps und der Hersteller eines Kellnermessers durfte noch darauf hinweisen, dass Flaschen aus Glas bestehen und Glas brechen kann. Früher glaubte die breite Masse die Richtung bestimmen zu können. Heute haben vielleicht die die Macht, die alles besser wissen und als „nichtschweigende Minderheit“ ihre Forderungen hinausschreien? Niemand vermisst verdorbenes Bier oder „Laugeflaschen“ im Markt. Der Verfasser dieser Zeilen weiß nicht, wer tatsächlich die Macht hat, vielleicht die Lehrerinnen [Anm.: ¾ der Lehrkräfte in D. sind weiblich], die die kommenden Generationen lenken oder „Markt-Forschende“, die festlegen was (Norm-)Kaufende [früher: Kunden] haben möchten, der Handel der den Herstellerinnen [Anm.: nahezu 100% der Firmen in D. sind Gesellschaften und gebieten deshalb den Gebrauch des weiblichen Artikels] „zielführende“ Forderungen stellt, die Medien, die z.B. die „Tricks“ der Lebensmittelindustrie anprangern oder doch die Minderheiten, die sich Aktivisten oder *-Schützer nennen und dem alten weißen Mann das Leben erklären?

Dass Häufiges häufig und Seltenes selten vorkommt, ist allgemein bekannt? Könnte es sein, dass sogar Schulkinder eher die Ausnahme als die Regel lernen und beherrschen? Ist es allgemein bekannt, dass viele Flaschen für CO2-haltige Getränke aus Glas bestehen und das Glas brechen kann? Weiß der Kunde, dass Glassplitter auf Überschallgeschwindigkeit beschleunigt werden, wenn ein mit CO2-haltigem Produkt befüllter gläserner Druckbehälter laut knallend zerbricht?

Sicherheithinweise

Sollten Umweltliebende froh darüber sein, wenn Glasflaschen extrem viele Wiederbefüllungen absolvieren und zum sehr großen Teil neue Flaschen aus recyceltem Altglas bestehen? Werden Fortschritte in der Glasherstellung, die die Sicherheit erhöhen müssten, durch hehre politisch motivierte Vorgaben aufgezehrt?

Was würde es ändern, wenn dem Konsumenten bewusst gemacht würde, dass unter bestimmten Umständen Glasflaschen brechen und welche Gefahren damit verbunden sind? Jährlich wird in Deutschland eine vierstellige Personenzahl durch brechende mit CO2-haltigem Getränk befüllte Glasflaschen körperlich verletzt. Würde Erziehungsberechtigten gewahr werden, dass eine Limonadenflasche kein Kinderspielzeug ist? Würden einfachste Vorsichtsmaßnahmen umgesetzt und Verletzungen verhindert oder die Schwere der Verletzungen gemindert werden; oder würden Konsumenten auf weniger „gefährliche“ Verpackungen ausweichen?

Wenn ein Messerhersteller darauf hin weist, dass seine Messer besonders scharf sind und von ihnen ‑ bei unsachgemäßer Nutzung ‑ eine entsprechend hohe Verletzungsgefahr ausgeht, wird man kaum auf stumpfe Messer ausweichen; aber ein vergleichbares Ergebnis lässt sich in der Regel auch nicht mit einem stumpfen Messer erzielen. Zur Abfüllung karbonisierter Getränke sind verschlissene, mit hohem Altglasanteil hergestellte Mehrwegglasflaschen jedoch nicht alternativlos, sodass hiermit (spekulativ!) begründet werden könnte, warum das potenzielle Verletzungsrisiko verschwiegen wird. Nichtwiederbefüllbare vollständig gesleevte Glasflaschen oder Aluminiumdosen wären aus rein technischer Sicht betrachtenswerte Alternativen; gegenüber gebräuchlichen Kunststoffflaschen sind Glasflaschen (und auch Getränkedosen) nahezu gasdicht und inert.

Unvermeidbar?

Die Innendruckfestigkeit von Glasflaschen nimmt bei jedem Vorspannen (Befüllen) und jedem Transport ab. Versuche in den 1970-er Jahren, die Sicherheit zu erhöhen, indem Flaschen unmittelbar vor dem Befüllen bewusst mit einem Prüfdruck beaufschlagt werden, um fehlerhafte Flaschen gezielt durch Bersten auszusortieren, mussten scheitern, da durch den (erheblichen) Innendruck die Flaschen nicht sichtbar, aber trotzdem erheblich geschädigt werden, sodass diese Prüfung kontraindiziert ist.

Durch die konstruktive Gestaltung und Ausführung der Glasflasche und durch das Aussortieren von Flaschen mit sichtbarem Verschleiß lässt sich die Anzahl der im Markt brechenden Glasflaschen und damit die Zahl der Verletzten reduzieren. Kosten und Marketingvorstellungen konkurrieren hier mit der Sicherheit. Einfache Vorsichtsmaßnahmen könnten Konsumenten leicht umsetzen, jedoch müssten sie dafür sensibilisiert werden. Der Markeninhaber der seine Kundschaft als erster darüber informiert wie man mit der potenziellen Gefahr einer brechenden Glasflasche umgehen sollte, um ein Bersten möglichst zu verhindern oder die schwere der Folgen abzumildern, wird entweder als Vorreiter gelobt oder durch einbrechende Verkaufszahlen bestraft werden.

Einfache zu kommunizierende Regeln wären z.B.: Hohe Temperatur+hoher CO2-Gehalt = „erleichtert“ Glasbruch, deshalb sollte man die Kiste Mineralwasser, die im Kofferraum 50°C angenommen hat, vorsichtig transportieren und nicht mit Schwung auf dem Boden des Vorratsraums abstellen. Insbesondere wenn die Kiste abgesetzt wird, ist es ratsam, den Kopf zur Seite zu drehen, denn eine Schnittverletzung in der Wange ist besser als eine im Auge? Ein (altes Hand-)tuch, das auf der Kiste liegt, kann den Flug der Splitter einer brechender Glasflasche weitgehend verhindern. Wenn im Restaurant eine (Schaum-)Weinflasche geöffnet wird, befindet sich eine Servierte um den Flaschenhals, nicht nur weil dies schicker oder hygienischer aussieht, sondern auch, um sich im Falle eines Glasbruchs vor Schnittverletzungen zu schützen.

Produkthaftung

Nach §1 Abs. 2 Produkthaftungsgesetz würde die Herstellerin in sehr vielen Schadensfällen nicht haften. Darüber hinaus wird ein Eigenverschulden von Geschädigten häufig verschleiert oder der Schadenshergang wird bewusst falsch dargestellt. Zur Ermittlung des Schadenshergangs sind alle (wesentlichen) Teile der gebrochenen Flasche erforderlich. Mit Hilfe der Glasscherben lässt sich der Schadenshergang mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit rekonstruieren. In der Praxis sind jedoch „Beklagte“, Haftpflichtversicherer und Gerichte häufig bereit, den Ausführungen und Wünschen von Geschädigten ohne qualifizierte Prüfung zu entsprechen.

Bei der Bearbeitung von Schadensfällen lauern Stolpersteine, die nicht immer zu vermeiden sind, deshalb ist die sorgfältige Dokumentation von angemeldeten Haftungsansprüchen empfehlenswert.

Gesetz über die Haftung für fehlerhafte Produkte (Produkthaftungsgesetz – ProdHaftG) - Zuletzt geändert durch Art. 5 G v. 17.7.2017 I 2421

§ 1 Haftung

(1) … .

(2) Die Ersatzpflicht des Herstellers ist ausgeschlossen, wenn

  1. er das Produkt nicht in den Verkehr gebracht hat,

  2. nach den Umständen davon auszugehen ist, daß das Produkt den Fehler, der den Schaden verursacht hat, noch nicht hatte, als der Hersteller es in den Verkehr brachte,

  3. er das Produkt weder für den Verkauf oder eine andere Form des Vertriebs mit wirtschaftlichem Zweck hergestellt noch im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit hergestellt oder vertrieben hat,

  4. der Fehler darauf beruht, daß das Produkt in dem Zeitpunkt, in dem der Hersteller es in den Verkehr brachte, dazu zwingenden Rechtsvorschriften entsprochen hat, oder

  5. der Fehler nach dem Stand der Wissenschaft und Technik in dem Zeitpunkt, in dem der Hersteller das Produkt in den Verkehr brachte, nicht erkannt werden konnte.

(3) … .

(4) Für den Fehler, den Schaden und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden trägt der Geschädigte die Beweislast. Ist streitig, ob die Ersatzpflicht gemäß Absatz 2 oder 3 ausgeschlossen ist, so trägt der Hersteller die Beweislast.

Ursache eindeutig?

Abbildung 1 zeigt eine rekonstruierte Flasche, bei der auch ein Nichtfachmann den Bruchursprung leicht erkennen kann. Man ist geneigt, auch die Bruchursache mit absoluter Sicherheit zu bestimmen. Sicherlich hat hier ein Schlag den Bruch der Flasche ausgelöst. Aber gibt es noch weitere Faktoren, die zum Bruch der Flasche geführt haben? Welchen Einfluss hatten der Innendruck, der im wesentlichen von den im Getränk gelösten Gasen (vornehmlich CO2), der Temperatur und auch dem Füllstand beeinflusst wird, die Konstruktion, die Fertigungsgüte der Flasche inkl. eventueller Fehler sowie der Verschleiß der Flasche?

rekonstruierteFlasche

Abb. 1 gebrochene Flasche (rekonstruiert)

Eine Glasflasche bricht, wenn sie einer auf sie einwirkenden Kraft nicht mehr standhalten kann. Während der Produktionskontrolle bei der Herstellerin müssen Flaschen einem Innendruck von z.B. pü >18bar standhalten; dies bedeutet aber nicht, dass das Gros der Flaschen spätestens bei z.B. 20 bar bricht, sondern ein nennenswerter Anteil wird regelmäßig auch mehr als den doppelten Prüfdruck überstehen. Abweichungen vom Idealzustand ‑ wie z.B. kleinste Steincheneinschlüsse ‑ können evtl. am Bruchursprung festgestellt werden und dafür verantwortlich sein, dass die Flasche an dieser Stelle zuerst gebrochen ist; aber wenn sie nach der Fertigung dem festgelegten Prüfdruck widerstanden hätte, ist diese Abweichung vom Ideal vermutlich kein Fehler und somit auch kein Mangel. Bei der Serienproduktion muss es Toleranzen zum Sollwert (Idealwert) geben, dies sind bei Flaschen z.B. Abweichungen in der Materialverteilung (Glasdicke) oder auch Einschlüsse, wie Gasblasen, Metallfäden (Abb. 9) oder auch Steinchen. Welchen Innendruck eine (Mehrwegglas-)Flasche überstehen muss, ist nicht allgemeingültig festgelegt. Sicherlich ist es sinnvoll den maximal auftretenden Druck ‑ der in der Praxis auftreten kann ‑ zu bestimmen. In Mitteleuropa können im in der Sonne abgestelltem Kraftfahrzeug Temperaturen von über 60°C auftreten, d.h. man muss sicherlich von 70°C oder 80°C Getränketemperatur ausgehen. Unter Berücksichtigung der Produktparameter lässt sich der max. zu erwartende Innendruck errechnen. Auf diesen errechneten Druck müsste ein Sicherheitszuschlag von z.B. 60% erfolgen, um festzulegen, bei welchem statischen Innendruck eine mängelfreie Glasflasche zum Zeitpunkt des Verkaufs nicht brechen darf.

Begutachtung

Anhand der aus Glasscherben rekonstruierten Flasche und ggf. Untersuchung der Scherben im Bereich des Bruchursprungs sollte die Frage geklärt werden können: Ist die Flasche in Folge eines Mangels, der zum Zeitpunkt des Verkaufs vorlag (oder bereits angelegt war) gebrochen, d.h. wäre sie zum Zeitpunkt des Verkaufs bei einem Prüfdruck, der dem maximal zu erwartendem Druck zzgl. Sicherheitszuschlag gebrochen oder trägt eine andere Kraft(‑einwirkung) für das Zerbrechen die Schuld und wenn ja, welche? In gerichtlichen Beschlüssen gestellte Beweisfragen dürfen natürlich nicht das Wort „Mangel“ enthalten, denn damit würde eine unzulässige Rechtsfrage gestellt werden. Leider formulieren Rechtsanwälte selten ihre Anträge allgemein und ergebnisoffen, sondern sie wollen z.B. beweisen, dass (k)ein Mangel durch einen bestimmten Fertigungsfehler vorlag. Ein Richter im Zivilprozess muss sich an die Anträge der streitenden Parteien halten und formuliert die Beweisbeschlüsse deshalb häufig im Wortlaut der Anträge.

Abbildungen 2; 3; 4; 9 zeigen eine zerbrochene Schaumweinflasche. Schaumwein wird grundsätzlich in Neuglas abgefüllt.

Hauptbruchstuecke

Abb. 2 gebrochene Schaumweinflasche – Hauptbruchstücke

muendungskratzer

Abb. 3 Kratzer auf der Mündung (passend zum Hebel des Kellnermessers)

Ausbruch_Innenrand

Abb. 4 Ausbruch Innenrand der Mündung (passend zum Hebel des Kellnermessers)

Metallfaden

Abb. 9 Fehler im Glas (nicht am Bruch beteiligt)

Zwanzig Minuten nach dem Kauf der Flasche bei einem Lebensmitteldiscounter und einer 2 km langen Autofahrt an einem warmen Sommertag (Wetteraufzeichnung t = >26°C), hat der Käufer versucht die Flasche mit Hilfe eines Kellnermessers zu öffnen. Nach Aussage des Käufers sei die Flasche beim Versuch sie behutsam ohne besondere Krafteinwirkung zu öffnen, praktisch von alleine „spontan explodiert“, sodass nur ein Fehler im Glas der Flasche für das Bersten und die damit zusammenhängenden Verletzungen verantwortlich sein könne.

Das Kellnermesser (Werbegeschenk) weist eine deutliche Winkelabweichung zwischen der Drehachse des Hebels und der der Wendel auf (Abb. 6; 7). Der Wendeldraht ist (im Verhältnis zu Kellnermessern, die üblicherweise professionell verwendet werden) sehr dick und weist eine geringere Steigung auf (Abb. 8).

kellnermesser

Abb. 6 Kellnermesser (schiefe Achse)

Detail_Achse_Kellnermesser

Abb. 7 Detail: sichtbare Achse des Kellnermessers (ergibt Winkel zwischen Hebel und Wendel)

Skizze_Kellnermesserwendel

Abb. 8 Maße der Wendel des Kellnermessers

 

Muendungsausbruch

Abb. 5 Flaschenmündung

Ein Ausbruch an der Innenseite der Mündung (Abb. 4) und Kratzer (Abb. 3 und 5) deuten darauf hin, dass beim Versuch den Korken herauszuhebeln nur ein Teil des Kellnermessers Kontakt mit der Flaschenmündung hatte und die Krafteinwirkung erheblich gewesen sein muss.

Der Zeitraum zwischen Abfüllung der Flasche und dem Schadensereignis betrug 38 Tage. In dieser Zeit stand die Flasche aufrecht und der Korken konnte weitgehend austrocknen. Gemäß der Beschreibung des Geschädigten, den Wetterdaten und den Aufzeichnungen des Abfüllers muss der Innendruck zum Zeitpunkt des Schadensereignisses mindestens pü= 6,0 bar betragen haben.

Ein Kellnermesser ist grundsätzlich ungeeignet eine Schaumweinflasche zu öffnen, die Konstruktion und der Zustand des verwendeten Kellnermessers waren fehlerhaft. Durch den dicken eng gewickelten Draht der Wendel des Korkenziehers war der Innendruck der Flasche im Bereich des Korkens sehr hoch. Der Korken war trocken und der durch das Getränk erzeugte Innendruck der Flasche war ebenfalls hoch. Der Käufer hatte beim Öffnen seine Hand nicht z.B. durch ein Handtuch vor Schnittverletzungen geschützt und bei seinen wenig erfolgreichen Anstrengungen den Korken aus der Flasche zu entfernen, hat er mit seiner Hand vermutlich den Flaschenhals erwärmt und er hat die Flasche dabei geschüttelt. Möglicherweise wäre die Flasche nicht gebrochen, wenn ein oder mehrere Faktoren anders gewesen wären. Als Auslöser für den Bruch muss letztendlich der Versuch gesehen werden, den Korken mit dem Kellnermesser herauszuhebeln. Wäre ihm die Gefahr bewusst gewesen, hätte er vermutlich ein geeignetes Werkzeug benutzt, den Öffnungsversuch abgebrochen bevor die Flasche gebrochen ist, die Flasche früher gekauft und über Nacht liegend im Kühlschrank temperiert oder zumindest seine Hand vor Schnittverletzungen geschützt?

Ohne die Scherben der Mündung wäre die Schadensursache nicht feststellbar gewesen.

Fazit

Schadenshergänge sind in der Regel rekonstruierbar; aber alle Scherben sind dafür meistens erforderlich. Die Hemmschwelle Unwahrheiten zu behaupten ist bei Geschädigten häufig gering. Geschädigten ist häufig nicht bewusst wie gefährlich ihr Handeln war und wie einfach sie sich hätten schützen können. Wessen Aufgabe es ist Schadensfälle durch Aufklärung zu reduzieren kann bleibt offen.

Download als PDF (Veröffentlichung Getränkeindustrie 04/2022)


 


© 2007 by Raimund Kalinowski